Heute ein kurzer Text zum russischen Angriff auf Georgien 2008.
2020
Suliko erhebt zuerst sich (langsam) und dann sein Glas. Suliko hält eine Rede auf die Gäste und trinkt. Suliko wird heute dreiundachtzig. Er wird aber nur auf dem Papier alt, sagt Suliko, nicht im Kopf. Ausgerechnet heute aber auch im Rücken. Deshalb soll Maia neuen Wein aus dem Keller holen. Maia will nicht in den Keller. Ich muss sowieso aufstehen, soll ich den Wein mitbringen? Maia nickt. Ich verlasse die Feiergesellschaft, Obacht, Giorgi, Bauch einziehen, nein, Tatia, ich gehe noch nicht, ja, natürlich esse ich noch etwas. Hinter Sulikos Haus schläft der Kaukasus: dunkeldunkle Berge in helldunkler Umgebung, als hätte jemand gedankenverloren mit dem Daumen den Staub von einer Pflaume gewischt. Sulikos Keller ist angenehm kühl. Es riecht nach altem Kellerstaub und jungem Wein, der in großen Tongefäßen unter Grund erwachsen wird. Sulikos Wein im Regal: 2016, 2017, 2019. 2018 war zu gut für schlechte Zeiten. Ich darf entscheiden, greife nach 2016, gedankenverlorenes Wischen über die Flasche offenbart den roten Wein unter grauer Staubschicht.
2008
Maia sitzt im Garten und schließt Freundschaft mit einem Käfer. Maias Käfer schimmert grün auf ihrem kleinen Daumen, wenn sie ihre Hand in der heißen Augustsonne dreht. Zaghaft zupft der Wind an den Blättern des großen Maulbeerbaumes. Maias Mutter ruft, rennt, greift das Kind, erschreckt den Käfer. Maias Käfer verschwindet im Maulbeerbaum. Maia hört: Luftalarm. Sie weiß nicht, was Luftalarm ist. Schnell in den Keller, sagt die Mutter. Der Keller ist angenehm kühl. Die Explosion ist heiß in Maias Ohren, der Trümmerstaub in ihren Augen. Mama, wo bist du? Maia riecht: den Wein von 2006 aus zerborstenen Flaschen, sieht: das Blut aus der zerborstenen Mutter. Mama, was hast du? Mama, tut das weh? Die Mutter antwortet nicht. Maia weint. Tränen offenbaren gedankenverloren die rote Haut unter der Staubschicht.
2020
Hier dein Wein Suliko, auf deine Gesundheit. Der Wein schmeckt bitter, wenn man selbst bitter ist, sagt Suliko immer. Suliko schenkt ein und erhebt sich (langsam, noch immer der Rücken). Wir trinken auf den heutigen Tag, sagt Suliko, und darauf, dass wir Vergangenes hinter uns lassen. Sulikos Wein schmeckt süß. Maias Wein schmeckt bitter. Wie schmeckt mein Wein?