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Interview mit dem amerikanischen ADHS-Experten Stephen Faraone.
In gewisser Weise ist das Interview auch eine Replik zum Artikel Have we been thinking A.D.H.D. all wrong? aus der New York Times, der hier bei Feddit im April gepostet wurde.

Bitter ist halt, dass es in der Ärzteschaft noch immer welche gibt, die genau so schauen würden, wenn sie gezwungen würden, endlich mal die Fakten zur Kenntnis zu nehmen…
Bitter deshalb, weil ADHS im Erwachsenenalter zu ignorieren nachweislich Menschenleben kostet.
Sehr gutes Interview, das Hoffnung macht. Vielleicht schaffe ich ja bald endlich mal den ersten Schritt Richtung Diagnose.
Ich sehe mich als neurotypisch. Im Kindesalter wurde ich diagnostiziert mit ADHS, klassisches zappeln und konzentrationsschwäche. Das verschwand irgendwie mit der Pubertät. Keine Ahnung. Gibt immer mal wieder memes von Leuten mit ADHS und oder Autismus mit denen ich mich identifiziere, aber in den Kommentaren stellen das andere Leute als Eigenschaften da welche nix mit diesen Diagnosen zu tun haben. Weis nicht mehr was ich eigentlich aussagen wollte damit. Bin definitiv neurotypisch, ich schwör
Ich nehm deinen Kommentar jetzt einfach mal für voll:
Meine Erklärung für das “verschwinden” von ADHS im Erwachsenenalter ist, dass man sich einfach über die Jahre, evtl. sogar spezifisch in der Pubertät aufgrund von peer pressure etc., Coping-Strategien zulegt.
Es gibt eben bestimmte Konventionen, denen man sich beugen muss und irgendwann passt man das Verhalten an, dass man mit anderen, neurotypischen Menschen klarkommt.
Die meisten neurodiversen Menschen “funktionieren” ja auch in der Gesellschaft, das heisst nicht dass es in denen drin einfach ist. Ab und zu kommt dann doch ein “Witz” durch, den keiner versteht, weil die Assoziationen nicht nachverfolgt werden können. Oder der Hyperfokus im Hobby wird als Talent oder Disziplin ausgelegt. (“Wenn du dich nur überall so engagieren würdest”).Trotzdem kann das belastend sein. Oder in die Depression führen, die aber auch nicht immer so ausgeprägt ist, dass man sich Hilfe holen will/kann.
Ich denke das Problem mit ADHS und Neurodivergenz ist einfach, dass sie insbesondere in der Kindheit “schwieriger” sind bzw. kleine Dinge schon traumatisch sind und sie daher eher Anpassungsstörungen oder andere Probleme haben, die aber eigentlich unabhängig von der Neurodivergenz sind. Habe immer öfter das Gefühl es gibt viele glückliche und funktionierende neurodivergente Erwachsene (oft sogar überdurchschnittlich erfolgreich) wenn es eben in der Entwicklung nicht zu überlagernden psychischen Problemen kam bzw. diese aufgearbeitet wurden.
Es ist ja eigentlich recht einfach: Wenn Kinder nicht mit Gewalt auf Norm getrimmt werden, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit gesehen, respektiert und unterstützt werden, können sie trotz ihrer Besonderheiten lernen, mit Herausforderungen umzugehen. Wenn sie jedoch von Eltern, Lehrkräften, Gleichaltrigen immer auf die Mütze kriegen, ist das halt ein extremer schlechter Ausgangspunkt. Die Toleranz gegenüber Vielfalt ist insgesamt ein gesellschaftliches Problem, das zu bearbeiten leider Jahrzehnte dauert.
Das ist doch der angestrebte Idealfall: Dass man bei einem Kind die Besonderheit bemerkt, aber ihm den Raum bietet, trotz dieser Besonderheiten und ohne Druck groß zu werden. Du hattest Glück, und warst vermutlich nicht extremen Stress ausgesetzt aufgrund Deiner Symptomatik. Du wurdest wohl eher nicht regelmäßig nach der Schule eingesperrt, wenn alle anderen nach Hause durften. Nur weil Du ein ADHS-Kind warst. Und Du hättest von Deinen Eltern auch nicht eine weitere Strafe bekommen, weil Du zu spät nach Hause kamst.
Tatsächlich ist ADHS so definiert, dass Du ohne schwere Einschränkungen und Leidensdruck auch kein diagnostizierbares ADHS hast. Dennoch stimmt es schon, dass es nicht wirklich verschwunden ist (falls die Diagnose korrekt war). Die Abweichung in Genen und Hirnstoffwechsel bleibt - aber Du kannst sie optimal kompensieren.
Grundsätzlich gilt: Alle ADHS-Symptome kommen auch bei neurotypischen Menschen vor. Aber erst, wenn diese Symptome den Alltag extrem erschweren, ist es ADHS.
Ja. Das Problem ist, dass sich sehr schnell ändert, was ein Kind als Belohnung empfindet. Da muss man wirklich dranbleiben. Und man muss sehr, sehr konsequent sein. Das ist unheimlich schwer, das wissen alle Eltern.
Die Gene spielen eine große Rolle – zu 80 Prozent sind sie es, die ADHS verursachen.
D.h. die Eltern haben auch ADHS. Da sollten wir uns als Gesellschaft was einfallen lassen.
Was ich mich, als jemand der als Kind mehrfach negativ diagnositiziert wurde, aber als “Troublemaker” trotzdem damit von Lehrern abgestempelt wurde, frage, ist wie sehr die Umweltbedingungen eine Rolle spielen.
Laut Artikel liegt die Prävalenz bei 10% der Kinder und 5% der Erwachsenen.
Da die Ursache primär als genetisch gesehen wird, müssen diese Gene eher neutral oder sogar nützlich gewesen sein, um so verbreitet zu sein.
Ich denke, dass die moderne Gesellschaft einen wichtigen Anteil daran hat, dass heute ADHS viel mehr ein Thema ist.
Noch vor hundert Jahren war alles ganz anders organisiert. Menschen, die heute ohne Abschluss von der Schule gingen, wurden damals mit 14 von ihrem Volksschullehrer zu einem Lehrherren gebracht, und lernten dort dann einen Beruf. Ich kannte einen ADHSler, der mir das so berichtet hat. Alles in seinem Leben war strukturiert in einer Form, die für uns heute unvorstellbar ist.
Meine Vermutung ist, dass manche Freiheiten der Gegenwart ADHSlern zum Verhängnis werden. Aber dass gleichzeitig auch die extrem hohen Ansprüche an Leistung und Normativität ungünstig sind. Ich stimme Dir also zu, dass die moderne Gesellschaft einen Anteil hat, dass es Menschen mit diesen speziellen Genen nicht gut geht. Zugleich wird es immer mehr von ihnen geben, denn noch nie war es so einfach, sich gegenseitig zu finden. Früher hat man geheiratet, wer einem zugeteilt wurde. Heute tun sich Neurodiverse gerne zusammen…
Der andere ist extreme emotionale Vernachlässigung und Unterernährung, das wurde bei Kindern in Waisenhäusern des Ceaușescu-Regimes in Rumänien nachgewiesen.
Keine klare Kausalität. Es kann auch nur einer der Faktoren sein.
ZEIT: Was ist mit den 20 Prozent der ADHS-Fälle, die nicht genetisch bedingt sind? Sind da Umwelteinflüsse der Auslöser?
Faraone: Ja. Es gibt aber bislang nur zwei Umweltfaktoren, die wissenschaftlich gesichert als solche Ursachen gelten können. Der eine ist eine Hirnverletzung. Der andere ist extreme emotionale Vernachlässigung und Unterernährung, das wurde bei Kindern in Waisenhäusern des Ceaușescu-Regimes in Rumänien nachgewiesen.
ZEIT: Man hört oft von anderen Dingen, die ADHS verursacht haben sollen: zu viel Zeit vor dem Bildschirm, zu viel Zucker oder wenn die Mutter während der Schwangerschaft raucht.Ich verstehe den Kommentar nicht.
Du meinst, dass Kausalität nicht erforscht wäre. Der Abschnitt spricht explizit davon, dass diese Faktoren “wissenschaftlich gesichert” als Ursachen gelten können. Damit wird gesagt, dass eben nicht nur Korellation, sondern auch Kausalität gegeben sei.
Es wird gesagt, aber wie soll das gehen? Für sowas braucht man Kontrollgruppen. Gab es nur unterernährte Waisen, und nur emotional vernachlässigte, aber nur wenn beides gegeben war, entwickelte sich ADHS?
Soweit ich weiss fehlten Resourcen, aber es wurden keine Experimente gemacht. D.h. die Schlussfolgerung kommt von Menschen, die die Kinder nach der Revolution betreut haben.





